Nachricht im Schwarzen Brett der Future Project BBS

BetreffUsererstellt am
Zeitdieb                                SYSOP               17.05.1992 22:39



Wie fange ich einen Zeitdieb?

Ich schaute mich um. Irgendetwas war eben passiert, ich hatte es deutlich
spueren koennen. Aber was?
An den Gefuehlstransmitter war ich nicht angeschlossen, unmoeglich, dass
mir jemand einen Streich dadurch pulsierte.
Ich war gerade dabei, mir meinen Vitamin-Tagesbedarf injizieren zu
lassen, als ich diesen kurzen Bewusstseinsschwund durchlebte.
An dem Injektor lag es doch hoffentlich nicht, ich hatte ihn mir
gerade neu materialisieren lassen, genau auf den PH-Wert meiner
Haut angepasst. 8 Minuten und 59 Sekunden hatte ich dafuer geblecht.
Ich konnte mich an das neue System immer noch nicht gewoehnen.
Geld war abgeschafft worden, na gut, schon seit 30 Jahren,..
32 Jahren, um genau zu sein. Aber nun mit Sekunden, Minuten, und
sogar Stunden zu bezahlen, war fuer mich doch etwas seltsam.
Die naechste Generation wuerde sich wohl daran gewoehnt haben.
Ich, mit meinen 37 Wochen, 12 Tagen und ungefaehr 17 Stunden
potentieller Lebenserwartung (ab jetzt), war dazu wohl zu alt.
Wenn ich nicht bald neue Zeit bekam, war es wohl bald aus mit mir...
Aber was war nun passiert?
Ich unterbrach die Injektion, durchlebte kurz die Uhrzeit, rein
gewohnheitsmaessig, und da fiel mir etwas auf.
Ein ungeheuerlicher Verdacht.
Ich dematerialisierte mich, schwang zum Gefuehlstransmitter und
materialisierte mich wieder.
Ich schloss mich an und pulsierte meine Befehle durch:

> aktuelle Lebenserwartung?

Wenige Mikrosekunden durchlebte ich die Antwort:

- 37 Wochen 12 Tage 15 Stunden 33 Minuten 37 Sekunden 36 Sekunden
  35 Sekunden 34 Sekunden...

Ich unterbrach.

> Lebenserwartung vor 10 Minuten?

- 10 Minuten mehr

> genaue Berechnung bitte!

- 37 Wochen 12 Tage 16 Stunden 33 Minuten 31 Sekunden 30 Sekunden...

Wieder unterbrach ich, total geschockt.
Mein Verdacht hatte sich also bestaetigt. Ich war einer Stunde meines
Lebens beraubt worden.
Irgend einer dieser illegalen Pulserschweine muss sich das neue
Zahlungssystem zunutze gemacht haben, eine Luecke gefunden haben.
Ein Zeitdieb.
Woher hatte er meine Personalnummer? Ich war ratlos.
Und da, ploetzlich: Wieder ein kurzer Bewusstseinsschwund.
Ich pulsierte wiederum die Befehle und bemerkte, dass mir eine ganze
Woche (und eine Stunde) meiner Lebenserwartung fehlten.
Schnell befahl ich:

> Zeitpolizei!

- Verbindung wird aufgebaut.. Dauer: 3 Sekunden
  1
  2
  3
  Zeitpolizei. Ihr Problem bitte.

> Ich werde von einem Unbekannten meiner Lebenszeit beraubt.

- Vollkommen unmoeglich.

> Ich habe es ueberprueft. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen das
  Ergebnis pulsieren.

- Nicht noetig. Vollkommen unmoeglich.

Ich unterbrach die Verbindung. Das hatte keinen Sinn mehr.
Mit computergesteuerten Ueberwachungseinheiten zu streiten, ist nicht
sinnvoller, als sich selbst eine Nachricht zu pulsieren.

Ploetzlich merkte ich, dass ich nur noch wenig Zeit hatte, wenn ueberhaupt:
Das automatische Arbeitsprogramm begann. Ich wurde dematerialisiert,
zur Arbeitsstelle pulsiert (auch eine dieser neuen Erfindungen, vielleicht
sogar von mir), und begann zu arbeiten.
Arbeit!
Das war frueher auch noch anders. Da hatte man noch selbst etwas getan.
Heutzutage stellte man seine Gehirnfunktionen zur Verfuegung.
Man bekam gar nicht mit, was man arbeitete. Das einzige, was ich ueber
meine Arbeit wusste, war, dass sie jeden Tag von 17 bis 18 Uhr ging, und
dass sie mir 3 Tage Gehalt im Monat einbrachte.
Sofort, als ich mit der Arbeit fertig war, beschaeftigte ich mich wieder mit
meinem Zeitproblem.
Bei meinem letzten Pulsieren hatte ich festgestellt, dass mir gerade noch
3 Tage blieben.
Ich ueberlegte 10 Minuten - wobei ich wieder 2 Tage verlor -, da hatte ich
eine Idee. Jetzt war allerdings Eile geboten.
Ich pulsierte:

> Personalnummer der letzten Einzugsperson?

- Auskunft nicht moeglich

Die letzte Einzugsperson musste der Zeitdieb sein.

> warum nicht?

- Datenschutz, Zeitschutz

> Ueberweise an letzte Einzugsperson!

- ok. Wieviel?

Jetzt war ich in einer Klemme. Vielleicht kam ich auf diese Art weiter,
aber ich konnte unmoeglich noch mehr meiner Zeit ueberweisen.
Ich durchlebte schnell noch einmal meine Lebenserwartung (zum Glueck hatte
der Gefuehlstransmitter Multitasking...), noch 7 Stunden.

> 1 Sekunde

- Nur Betraege ueber 10 Sekunden moeglich

> 11 Sekunden

- ok

Jetzt versuchte ich es auf Synchrotron komm raus:

> Ueberweise an letzte Einzugsperson!

- ok. Wieviel?

> -10 Tage

- Nur positive Zahlen moeglich

> Ueberweise an ueberweisung der letzten Einzugsperson von ueberweisung an
  letzte Einzugsperson!

- ok. Wieviel?

Jetzt hatte ich ihn. Mit diesem primitiven Satz wurde der Transmitter
nicht richtig fertig. Das war der Trick, den er wahrscheinlich auch benutzte.
Damit hatte ich ihn.

> 100 Tage

- ok.

Ich pulsierte den Satz wiederholt, ausser mir vor Freude ueber meinen
Erfolg.

- ok. Wieviel?

> 2000 Jahre.

Damit musste ich den Zeitdieb eliminiert haben, er konnte unmoeglich soviel
Zeit zusammengestohlen haben.

- Fehler: nur 587 Jahre ueberwiesen. Personalnummer nicht mehr besetzt.
  Bitte keine weiteren Ueberweisungen mehr.

Na also, das war der Zeitdieb gewesen!
Und ich, ich hatte jetzt noch 587 Jahre Lebenszeit! Mehr, als ich jemals
zu traeumen gewagt hatte.
Ploetzlich wurde mir schwarz vor Augen.
Meine Lebenszeit schwand wieder dahin, das fuehlte ich. Nur warum jetzt?
Ich bekam wieder eine Nachricht, gleichzeitig schwanden meine Jahre...
(Multitasking)

- Sie hatten recht, es war doch moeglich, Zeit zu stehlen. Wir ent-
  schuldigen uns fuer den Fehler und hoffen, Ihnen keine Unannehmlich-
  keiten bereitet zu haben.
  Ihre gestohlene Lebenserwartungszeit bekommen Sie zurueck.
  Zeitdieb wird eliminiert.
  Fehler ist beseitigt worden.
  Wir bitten nochmals um Entschuldigung.

Mir wurde immer schwaerzer vor den Augen. Bis jetzt dachte ich immer,
schwarz sei schwarz. Nun erfuhr ich, dass dies bei weitem nicht so ist.
Doch ploetzlich, als es dunkler nicht mehr zu gehen schien, als ich
schon laengst nicht mehr am Leben war, bemerkte ich ein Licht auf
mich zukommen.
Es war blendend hell, doch eine beruhigende Helle.
Es kam immer naeher... oder kam ich naeher?
Auf einmal war ich im Licht, verschmolz mit dem Licht, wurde zum Licht,
war das Licht selbst, das Licht war ich.
War das ewiges Leben... oder der ewige Tod?